Geistliche Begleitung bei den Müttern und Vätern der Wüste

In einer Zeit, in der sich immer mehr auch kirchennahe Menschen aus dem gemeindlichen Leben zurückziehen und spirituell eigene Wege gehen, ist ein Blick auf die Väter und Mütter der Wüste inspirierend. Auch sie verließen in der Spätantike ihr gewohntes Lebensumfeld und zogen in die Wüste, um an diesem Ort mit harter Askese ein ganz individuelles spirituelles Leben der Nachfolge Jesu zu leben. Jede und jeder einzelne von ihnen war Teil einer Bewegung, die Massen zu mobilisieren vermochte. Zehntausende zogen in die Wüste. Diese Bewegung war auch eine Emanzipationsbewegung: Wer in die Wüste zog, ließ Rollenerwartungen hinter sich und befreite sich aus Zwängen und Abhängigkeiten. Einfach war dieser Weg nicht. Man brauchte Unterstützung durch einen geistlichen Begleiter, von dem man lernen konnte. Zu einem solchen geistlichen Vater oder einer geistlichen Mutter machte man sich nicht selbst. Vielmehr wurde man als ein/e solche/r erkannt. Der Begleiter muss wissen, wovon er spricht. Er muss sein eigenes Herz bis auf den Grund erforscht haben und eigene Erfahrungen gemacht haben. Erst dann kann er erfassen, worum es in der Begleitung geht und was denjenigen hilft, die zu ihm kommen.  

Die Mütter und Väter der Wüste waren begehrte Gesprächspartnerinnen und -partner. Für Schülerinnen und Schüler, die auch ein asketisches Leben führen wollten, genauso wie für Weltmenschen, die Rat suchten oder sich auf ihrem Glaubensweg begleiten lassen wollten. Davon zeugen die Apophthegmata Patrum, eine Sammlung von Sprüchen der Wüstenväter und Wüstenmütter, die am Ende des 5. Jahrhunderts herausgegeben wurde. Sie zeigen, wie die geistliche Begleitung in der Wüste verlief. Am Anfang steht stets eine Frage: "Wie kann ich gerettet werden?" Diese oder eine ähnliche Frage eröffnet ein dialogisches Geschehen, auf das sich beide Gesprächspartner einlassen müssen: offen, wahrhaftig und existentiell mit ihrer ganzen Person. In diesem Gespräch geht es nicht um abstrakte religiöse oder theologische Fragen, sondern immer um die persönliche Beziehung zu Gott und den eigenen Glaubensweg. Die Mütter und Väter der Wüste wussten, wie unterschiedlich die Wege zu Gott sind und wie unterschiedlich weit Menschen auf ihrem Weg mit und zu Gott voran kommen. Daher begleiteten sie jeden, der zu ihnen kam, individuell und auf seine persönliche Glaubenssituation bezogen.

Ein solches Konzept geistlicher Begleitung ist auch heute inspirierend für Seelsorge und Begleitung. Die Vorstellung vom Glauben als Weg, auf den ich mich jeden Tag wieder neu einlassen muss und auf dem ich Begleitung benötige, um weiter voran zu schreiten, passt gut in die heutige Zeit. Entscheidend wird es darauf ankommen, ob es gelingt, Menschen zum Fragen zu befähigen und zu motivieren. Wenn ich frage, dann führt mich das weiter auf meinem  eigenen geistlichen Glaubensweg, dann bin ich wach, ganz bei mir und ganz bei Gott und kann in einen Dialog eintreten: mit Gott und einem Begleiter oder einer Begleiterin, der oder die vielleicht etwas von der Weisheit besitzt, die die Väter und Mütter der Wüste der Christenheit geschenkt haben. 

 

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